Zum Hauptinhalt springen

Die Welt aus der Perspektive der Armen betrachten

Walter Ludin: Es geht in der folgenden Predigt, die ich in der Krankenkapelle des Kapuzinerklosters Schwyz halte, vor allem um franziskanische Ordensarmut. Es gibt darin aber auch Anregungen für Nicht-Franziskaner …

«Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, ins Reich Gottes zu kommen.» So heisst es im heutigen Evangelium.  Es gibt noch viele andere Warnungen Jesu vor dem Reichtum. Da ist zum Beispiel die Geschichte vom reichen Prasser und dem armen Lazarus vor seiner Türe. Oder Jesu Ruf: «Wehe euch Ihr Reichen. Ihr habt euren Lohn schon empfangen.»

Trotz solch deutlichen Worten: Jesus schreibt die Reichen nicht ab. Er gibt ihnen durchaus eine Chance. Oder wie die lateinamerikanische Befreiungstheologie es ausdrückt: «Das Evangelium ist für die Reichen ein Ruf zur Umkehr; für die Armen eine Frohe Botschaft.»

Und heisst dies für uns franziskanische Ordensleute? Wir haben zwar Armut gelobt, leben aber in einem der reichsten Länder der Welt. Gewiss: Wir leben zwar nicht ärmlich, aber auch nicht im Luxus. Dazu zwei persönliche Beobachtungen:

  • Wenn ich Klassenkollegen oder andere Bekannte besuche, staune ich oft über ihre grosszügigen Wohnungen, vielleicht noch mit einem Swimmingpool im Garten. Da leben wir mit unsern Klosterzellen doch eher bescheiden.
  • In meinen 35 Ferienaufenthalten auf Kreta wurde ich oft von Freunden begleitet. Es fiel mir auf: Wohl alle von ihnen haben mehr Geld ausgegeben als ich; nicht nur, weil sie mich hie und da zum Essen eingeladen haben. Sondern auch, weil sie teure Souvenirs für sich und andere einkauften, wie ich sie mir überhaupt nicht leisten wollte.

Dies als Hinweis, dass wir uns nicht schämen müssen, auch wenn wir nicht armselig leben. Und doch: Die Botschaft Jesu vom Reichtum fordert auch uns heraus. Sicher, wir müssen nicht zurückkehren zur Armutspraxis vor dem Konzil, als wir jede Briefmarke beim Obern erbetteln musste. Dies war sinnlos und hat keinem Armen geholfen.

Ich behaupte nun: Unsere Armutspraxis muss vor allem auch den Armen zugutekommen. Sie tut es, wenn wir uns an einem der Uranliegen von Franziskus ausrichten. Er wechselte seinen gesellschaftlichen Standort und nahm die Perspektive der Armen ein.

Frage: Sehen wir die Welt mit den Augen der Armen, der Benachteiligten, den Opfern von Hass und Gewalt? Ich bezweifle es, vor allem wenn ich zurückdenke an Luzern. Als wir im Kloster noch viele waren, waren zur Tagesschau vielleicht 20 Brüder versammelt. Der eine oder andere betätigte sich zwischendurch lauthals als Kommentator des Gesehenen. Nicht nur mir fiel auf: Fast immer wurde dabei die Sicht der Mächtigen und Reichen geäussert. Kaum einmal ging es um die Perspektive der Opfer.

Zum Schluss: Die Welt aus der Perspektive der Armen betrachten: Was könnte dies heute heissen. Es kann vor allem bedeuten, sich in die Situation der Opfer hinein zu versetzen. In den Medien ist meistens das Gegenteil der Fall: Wenn von «Flüchtlingsproblemen» die Rede ist, geht es fast immer um die Schwierigkeiten, welche die reichen Länder bei ihrer Aufnahme habe. Und fast nie werden die Probleme dargestellt, welche Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen.

Man meint, die Probleme wären gelöst, wenn die Grenzen für Asylsuchende geschlossen wären. Dabei ist es den meisten egal, ob dadurch Flüchtende zurückgeschickt würden: zum Beispiel nach Kroatien, ein Land, das auf seinen Katholizismus stolz ist, aber Asylsuchende massenweise von Polizisten verprügeln lässt. Um nur dieses Beispiel zu nennen.

Und jetzt schliesslich konkret: Bemühen wir uns, uns zu informieren über das Schicksal von flüchtenden Menschen. Ich lege im Lesezimmer öfters Zeitschriften auf, die darüber berichten. Doch wer liest sie? Und wer bemüht sich, im Gespräch mit Freunden und Bekannten Verständnis zu wecken für Menschen, die ihre Heimat wegen Krieg oder Elend verlassen mussten?

Die Welt aus der Perspektive der Armen betrachten